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Interview

Es ist schwer zu leben, wenn man sich der Achmatowa gegenüber gleichgültig verhält oder Mallarmé

Gespräch mit Wojciech Izaak Strugała in Lwówek Śl. am 20.05.2006

Viktor Kalinke: Meine erste Frage ist, was für dich Anlässe sind zu schreiben. Was bringt dich zum Schreiben, was reizt dich?

Wojciech Izaak Strugala: Das Gedicht ist ein Traum der Reime. Man ist erfüllt von einem Gedicht. Das Schreiben beginnt im Moment des Einschlafens, im Moment der Schmerzen und der Freude. Die beiden Zeiten verbinden sich vor dem Einschlafen. Das neue gesamte Gedicht ist eben das Erwachen. Man erwacht, und schon hat man die Idee zum Schreiben, das Umkreisen und das Bild. Nicht immer. Jetzt spreche ich erst einmal zu mir selbst: Erkenne erst einmal das Werk in deinem Leben und lerne die Kunstwerke im Leben kennen! Wenn du das erstere begreifst, wirst du das andere auch verstehen. Und aufgrund dieses Prinzips ist es so, als sei die Grenze verwischt zwischen dem Gedicht oder einem Kunstwerk und diesem unseren Leben. Am Anfang war ich überzeugt davon, daß der Dichter derjenige ist, der nichts sagt. Denn bei Hölderlin oder bei Norwid, insofern, was ich von ihnen wußte, war ich überzeugt, daß ergreifender und verstärkt im Leben des Dichters die Sprache des Schweigens ist. Also, ein Dichter befindet sich in sich selbst. Man könnte das die Briefform - wie z.B. bei einem Brief an den Freund - nennen.

Viktor Kalinke: Wann hast du angefangen zu dichten? Was war das erste Erlebnis, bei dem du gemerkt hast, daß es da noch etwas anderes gibt als das, was du um dich herum siehst?

Wojciech Izaak Strugala: Ich war elf oder zwölf Jahre alt, als ich das erste Gedicht schrieb. Als ich mir so verschiedene Zweifelsträume vorgestellt habe, so auch die Überlegung der Liebe zu den Menschen wie die Liebe zur Mutter, Enttäuschung und Verbitterung, da war ich gerade halbwüchsig. - Das war ein Porträt meiner Kindheit. In dieser Zeit früher Jugend, meiner Unfähigkeit, habe ich die Zeit der Verwirklichung gefunden in Form des Briefes. Aber früher haben schon andere, die Großen, diese Dinge entdeckt wie der Pole Norwid, die Deutschen Hölderlin oder Novalis.

Viktor Kalinke: Du hast ja zuerst Müller gelernt. Inwiefern ist das Schreiben mit deinem äußeren Leben kollidiert? Oder hat es harmoniert?

Wojciech Izaak Strugala: Ich habe die polnische Mühlen-Zeitung gelesen. Es war - eins - zwei - drei - meine dritte Realität. Das war das Technikum in Wrocław. Mein Abitur ging in Richtung des Mühlenhandwerks. Es hat mir dazu verholfen, das Umfeld zu ergründen. So war es am Anfang. Ein Teil der Geschichte war die Kirche, das sacrum, die Philosophie, die Religion. Und hier, in der Kirche, bin ich getauft worden und empfing die erste Kommunion. Hier bin ich geboren, in Lwówek Śląski. Ich bin Katholik, Peter ist Protestant, Lutheraner (das ist dasselbe), wie Hölderlin.

Viktor Kalinke: Welche Orte spielen für dein Schreiben eine Rolle?

Wojciech Izaak Strugala: Der Ort, in dem ich geboren worden bin, ist eine kleine Stadt, Lwowek, aber mein Schreiben ist völlig frei, ist nicht bestimmt von diesem Ort. Mal ist es Stratford bei Shakespeare, mal ein anderer Ort, aber immer gibt es für mich einen konkreten Ort.

Viktor Kalinke: Hast du auch an anderen Orten gelebt?

Wojciech Izaak Strugala: Ich war zweimal in Dresden ... irgendwann will ich nach Leipzig fahren, in die Kantstraße...

Wojciech Izaak Strugala: Eigentlich hat sich in meinem Leben alles ereignet wie bei Hieronymus Bosch, alles um die kleine Kirche herum.

Viktor Kalinke: Hölderlin und Novalis – das sind die beiden Figuren in der Literaturgeschichte, die nicht nur Inspiration auslösen für dich, sondern mit denen er eine geistige Korrespondenz über die Zeit hinweg unterhält. Mich interessiert, wie du auf diese beiden gestoßen bist?

Wojciech Izaak Strugala: Es ist umgekehrt, die Dichter haben mich gefunden, ich habe sie nicht gesucht. Ich lebe in einer materialistisch orientierten Welt. Ich würde es Konsumgesellschaft nennen, so das Prinzip. Wenn man mit dieser abscheulichen Ideologie lebt ... Mein Geist hat von Anfang an die PRL (Bezeichnung für den sozialist. poln. Staat) abgelehnt. Und alles, was mit dieser Ideologie zu tun hatte. Und so habe ich in meinen ersten Gedichten und Briefen eine Sprache als Chiffre gefunden, inspiriert von den Klassikern der Deutschen, der Franzosen und von der polnischen Romantik. Diese Sprache hat mir eine Erleichterung verschafft, damit ich nicht verrückt wurde. Als die Wirklichkeit schlecht, wirklich böse war und die Schule hohl. Deshalb hab ich mich bei den Idealen wiedergefunden. In dem ganzen Idealismus hat der von Novalis gesiegt.

Viktor Kalinke: Worin besteht für dich die ideale poetische Form? Gehören Reime dazu? Hast du ein Ideal im Innern, dem du folgst?

Wojciech Izaak Strugala: Ich stelle mir das so vor, daß meine einzige Form der Brief ist. Für mich ist die Musik der Worte wichtig. Und: Im Brief steckt die meiste Musik. – Ich habe den Brief noch gar nicht geschrieben, habe aber längst den Empfänger für ihn, und das ist der Leser. Um zu unserem ersten Kapitel unseres heutigen Gesprächs zurückzukehren. Sagen wir also, das Leben ist zugrunde gegangen, ist unmöglich geworden, ist tot. Indessen: Was ist möglich geworden? Diese Freundschaft in Form des Briefeschreibens, des Gedichtschreibens des einzelnen. Und später weiß der Mensch gar nicht, was mit den Gedichten geschehen soll. Aber sie sind notwendig.

Viktor Kalinke: Bevorzugst du eine experimentelle Sprache oder eine gebundene Sprache?

Wojciech Izaak Strugala: Nein. Ich habe probiert zu experimentieren, als ich die Schwelle der Publikation überschritten hatte, wie die Kritiker dies so unschön bezeichnen. Das war die Zeit meiner ersten Veröffentlichung. Und ich habe es versucht mit meinen Freunden im Glatzer Bergland: visuelle und konkrete Poesie. Wir schauten uns die russischen Futuristen an usw. Aber es hat mit eben nicht gefallen, weil ich es krampfhaft versuchte nachzuahmen, als hätte ich es aus Freundschaft für Bogusław oder Michal Fostowicz heraus getan, für Marek Garbala. Es war eine kleine Schmeichelei, die schnell zu Ende ging. Ich könnte sagen, es gab eben eine Versuchsanstalt bei mir.

Viktor Kalinke: In welchem Verhältnis steht für dich ein abstraktes Motiv auf der einen Seite und Sinnlichkeit oder Körperlichkeit in der Sprache andererseits?

Wojciech Izaak Strugala: Das ist so, wie schon vorher gesagt, als wäre man geflüchtet nicht in den Kosmos, die reale Welt, sondern in die Sphären der idealen, vorgestellten Welt. Es waren Gegensätze, als wäre Kant erschienen. Da sind die Gegensätze in der Philosophie plötzlich verschwunden. Wie ich mich erinnern kann, hat Kant auch gegen die äußere Welt gekämpft.

Viktor Kalinke: Mich interessiert noch, was du vorhin gesagt hast: daß Novalis und Hölderlin dich entdeckt haben und die durch dich in unserem Jahrhundert, in unserer Zeit eine Stimme finden. Zu diesem Prozeß möchte ich gern noch mal nachfragen: Wie hast du gespürt, daß Hölderlins Dichtung und Novalis Dichtung in dir verborgen sind?

Wojciech Izaak Strugala: Vielleicht hatte ich etwas Glück, daß ich in meinen ersten Irrungen auf dem Weg auf Hölderlin traf. Denn meine Freunde lasen metaphysische Dichter. Und ich merkte, sie irrten, denn die metaphysischen Dichter gelangten zu keiner Wahrheit. Kant hat gekämpft, Hölderlin hat gekämpft. Wenn man metaphysisch herangeht, kommt man zu keiner Wahrheit. Es entstehen dadurch nur Sprachexperimente und vielleicht philosophische Experimente. Sie werden neue Bücher schreiben solche Schriftsteller wie z. B. Czesław Miłosz. In Wirklichkeit ist es nur ein Mühlrad.

Viktor Kalinke: Welche Rolle spielen Hölderlin und Novalis für die polnische Literatur überhaupt?

Wojciech Izaak Strugala: Ich denke, wir Polen wissen ganz wenig vom Leben und Schaffen, von der Kraft Hölderlins, so gut wie nichts. Und ich glaube, daß Hölderlin für einen schöpferischen Menschen, einen Dichter, ein reales Dasein gibt. Daß ich bin und meine totale Abwesenheit. Denn Hölderlin ist für mich wie ein geöffnetes Buch. Und es ist nicht immer Hölderlin direkt, sondern ein Zitat oder ein Motto. Wenn ich in irgendeiner meiner Welten bin, in der realen oder wenn ich schreibe, dann ist sein Geist immer neben mir. Und es wäre interessant, was hätte mein Hölderle gesagt, wenn er leben würde und hier anwesend wäre. Mit welchem Blick hätte er das von sich aus gesehen? Mit anderen Worten, ich glaube nicht an die Lebensdauer meiner Gedichte. - Mein reales Dasein ist nicht einfach. Das ist wie in dem Lied von Rilke, daß ich nicht hier bin, aber vor mir ist ein kleines ausgeblichenes Porträt von der Kindheit. Und ich habe etwas von meiner Einsamkeit und ein wenig von meiner Freude. Und alles das habe ich einsam allein, für mich. Und so kann ich meine fünfzig Lebensjahre skizzieren. Ich habe keine Größe, keine Anstrengungen vollbracht, eine Handvoll Gedichte, die ich geschrieben habe. Ich glaube, mit dieser vollen Hand könnte ich eine schöne einsame Seele beschenken, die vielleicht keine Poesie liest. Wenn sich das für sie so ereignen würde, wie es mir begegnet ist, als ich Hölderlin kennenlernte, dann könnte ihr Leben sich ändern, dann gäbe es weniger Einsamkeit.

Viktor Kalinke: Die Identifikation mit Hölderlin und Novalis verstehe ich als eine Form der Teilhabe an der Welt. Du bleibst hier an einem Ort, im Turm der Stadtmauer von Lwówek Śląski, du lebst hier, doch auf diese Weise nimmst du teil am Dialog, der die Literaturgeschichte durchzieht und der bis in die Gegenwart, zumindest im deutschsprachigen Raum, eine Wirkung ausstrahlt. Und du nimmst auch teil an den gesellschäftlichen Kämpfen, die Hölderlins Zeit gekennzeichnet haben und die für die Situation des Dichters ja immer noch charakteristisch sind. Ich meine, daß der Dichter in seiner Zeit nicht unbedingt die Leitfigur darstellt, sondern eher eine Leidfigur, mit ‚d’ geschrieben. Welche Rolle, glaubst du, spielt der Dichter in der heutigen Gesellschaft oder hat er zu spielen?

Wojciech Izaak Strugala: Ich denke, der Dichter spielt keine Rolle. Aber gewiß ist, daß das Theater lebt, daß die Metaphern leben. Und: Der Dichter ist notwendig. Wir brauchen bloß auf Novalis schauen: die Poesie ist die Evangelisierung des Lebens. Notwendig ist es, Briefe zu schreiben. Unsere Gedanken rennen nicht nur durch den Wald. So die Metapher. In Wirklichkeit rennen sie dem Geld hinterher. Es ist schwer zu leben, wenn man sich der Achmatowa gegenüber gleichgültig verhält oder Mallarmé gegenüber. Und es war nicht leichter und besser, als wir heute leben. Und die Notwendigkeit gebiert eine Notwendigkeit. Und der Dichter gebiert einen neuen Dichter. Und wenn wir auch die Poesie verdammen oder verbieten würden, dagegen entstünde ein Widerstand, es würde sich nichts ändern. Die Poesie ist eine Sphinx: Sie entsteht immer wieder von Neuem.

Viktor Kalinke: Wie würde in deinen Augen eine Welt aussehen, in der es keine Dichtung mehr gäbe, in der die Dichtung ausgestorben wäre?

Wojciech Izaak Strugala: Das wäre die totale Vernichtung. Denn ich kann mir gar nicht die Situation des Daseins vorstellen. Die Menschheit ist eine Existenzform einsamen Daseins, und das einsame Dasein stärkt einen, und der Mensch wird dadurch schöner und erlangt vitale Kräfte und kann schöpferisch wirken. Wenn es anders wäre... Stellen wir uns das plötzliche Fehlen von Dichtern vor, das wäre absurd, das wäre so, als fehlte plötzlich die Sonne, und plötzlich fehlten die Flüsse und das Wasser. Ich wollte sagen, wir schauen in das Fenster hinein, und es ist in jedem Fenster das gleiche Licht, und die Menschen in ihrem Fenster sehen sich alle ähnlich. Und ähnlich verdecken sie mit ihren Sorgen ihre Gesichter. Aber in der Menge des Lichtes und der Fenster wird immer ein Dichter geboren. Und ich würde das 22. oder das 23. Jahrhundert so skizzieren: Ich glaube, daß die nächste Epoche solche Dichter wie Vergil oder Orpheus hervorbringen wird, oder wie Hölderlin. Da entspringen solche großen Persönlichkeiten in ihrem Sinne wie auch der Bildhauer Michelangelo. Er war auch Dichter, in seiner Art. Denn er sagte, bevor er mit seinem Denken begann, daß der Tod die Macht ist. Und er hätte den Tod und den Gedanken in seine Bildhauerkunst eingebracht und zeigte in jeder seiner Arbeit die Zeit des Schmerzes und des Todes. Warum spreche ich von Michelangelo? Nur deswegen, weil die großen Werke entstanden sind, weil der Geist eines Poeten waltete. Und die größte Wirklichkeit dabei war, daß er mit dem Tod sprach, in jedem Gedanken. Daher Werke wie die Sixtinische Kapelle, die Kuppel, die Pieta, David usw. Und daran erinnere ich deshalb, weil wir gleichzeitig auf den Tod des Empedokles schauen müssen. Und das Ganze, was uns Hölderlin herausgesponnen hat, deckte er in Form der Poesie auf. Und ich erwidere darauf, daß neue Dichter geboren werden, und, romantisch gesprochen: Es wird ein neuer Prometheus geboren. Und hier bin ich heute noch mit den Gedanken das erste Mal bei dem großen Goethe, denn ohne ihn wäre es schwerer, sich miteinander zu unterhalten, Goethe als großer Philosoph und großer Dichter. Man braucht nur auf das Beispiel von „Tasso” zu blicken. Aber die schöne Poesie, wie sie sich im Drama zeigt, in Form des Briefes in den „Leiden des jungen Werthers”. Und so ist für mich in einem Teil der Poesie Goethes ein Teil Hölderlins.

Viktor Kalinke: Nochmal zurück zu dir selbst. Dein erstes Buch, wann ist das erschienen?

Wojciech Izaak Strugala: Ich erinnere mich nicht genau... Das ist ein Problem... mein erstes poetisches Debüt ... ich debütierte 1978 mit Gedichten. Im Juniheft des Warschauer Literaturjournals Mieszęcznik Literacki debütierte ich mit den Gedichten „Das Rad” und „Der Blick”.

Viktor Kalinke: Wie ist jetzt dein Verhältnis zu deinem Debüt?

Wojciech Izaak Strugala: Ich denke mir, die ersten Sachen waren einfach Geschwätz, Sprücheklopfern, also alles das, was in der Poesie störte. Jetzt könnte ich diese Gedichte wiedergeben, denn man hat die ersten Gedichte erlebt wie den Schulanfang, den Besuch der ersten Klasse. Und heute würde ich das anders schreiben. Aber ich werde es nicht schreiben, weil es den Bedarf zum Druck nicht gibt. Man wird älter, aber ich habe keinen Bedarf dazu. Ich sehe in der Poesie die Güte und eine bescheidene Würde. Ich tue viel mehr für den Geist. Für mich ist der altehrwürdige Hölderlin viel schöner, obwohl sie zusammen sind als der frühere Hölderlin in Denkendorf, Lauffen. Aber es ist ja nicht so, daß es trennt. Und wenn ich die Poesie Hölderlins wählen sollte, dann hätte ich die Insel des Glücks aus Tübingen genommen als Hyperion und seine weiteren Werke, die älteren, denn er schrieb so schön.

Viktor Kalinke: Welche Anerkennung durch die literarische Kritik hast du gefunden? Gab es Preise?

Wojciech Izaak Strugala: Preise erhielt ich nicht viel. Dem Dichter ist seine eigene Erfahrung vorbestimmt. Und die echte Kritik kann freundlich sein, und sogar der Literaturkritiker kann ein Freund sein. Aber nur dann, wenn seine Relationen und sein Urteil ehrlich sind, wenn seine literarische Analyse ehrlich und offen ist. Kurz gesagt, ich habe keine Erfahrungen. Vielleicht gibt es ein paar Gedichtbände, die von den Warschauer Rezensenten kritisiert wurden. Ich könnte ein paar Namen nennen, die eine Bedeutung haben. Man könnte das so einfallsreich nennen: Als ich Begegnung hatte mit kritischen Gedanken. Es gab verschiedene Kritiken.

Viktor Kalinke: Dankeschön für das Gespräch.

Übersetzung: Peter Gehrisch