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Interview

Das Ding ist gelaufen

Gespräch mit Thomas Kunst am 27. 5. 2006

Viktor Kalinke: Ich komme gleich zur ersten Frage, die mich interessiert. An welchem Ort schreibst du?

Thomas Kunst: Es gibt immer nur den Ort, an dem meine Schreibmaschine steht. Ich bin nicht so ein Typ, der die Bewegung oder ständige Ortswechsel braucht. Es ist wirklich nur dieser Platz hier, an dem ich schreibe. Es gibt keinen anderen.

Viktor Kalinke: Du bist ein seßhafter Schriftsteller …

Thomas Kunst: Ich bin absolut seßhaft, ja.

Viktor Kalinke: ... also keiner, der unterwegs ist und auf Knien schreibt ...

Thomas Kunst: Na ja, ich bin nicht so viel unterwegs, weil ich so ein träges Schwein bin, aber wie gesagt, ich brauche immer den gleichen Platz. Wenn ich mich einmal daran gewöhnt habe, dann steht er fest. Ich könnte noch nicht mal die Schreibmaschine nehmen und ins Nebenzimmer gehen. Da könnte ich nicht schreiben, das ist sehr schwierig. Da bin ich eher konservativ.

Viktor Kalinke: Gibt es bestimmte Situationen, die für dich zum Aufhänger werden, die einen Anstoß geben, daß du sagst, „da mach ich was draus, das ist was für mich“? Welche Situationen sind das?

Thomas Kunst: Das ist fast immer das Gleiche, es sind Einzelwörter, fast ausschließlich Namen. Solange ich schreibe, reagiere ich extrem auf Namen. Wenn ich einen Namen habe, dann beginnt mit diesem Namen auch die Geschichte des Namens und ich versuche, daraus etwas zu machen. Mein letzter Roman begann genauso. Ich habe auf einer Dorfstraße in Sachsen-Anhalt den Namen „Botabi“ gehört, davor habe ich dann „Lisa“ gesetzt und da hatte ich meine Hauptfigur „Lisa Botabi“. Da wußte ich, jetzt geht der Text los.

Viktor Kalinke: Entscheidend ist also die klangliche Ästhetik?

Thomas Kunst: Absolut.

Viktor Kalinke: Das merkt man auch, wenn man die verschiedenen Figuren in deinen Gedichten oder Romanen verfolgt. Vielleicht kannst du noch ein paar Namen nennen, die eine wirklich schöne Melodie haben.

Thomas Kunst: Zum Beispiel „Lylvena“ mit y, „Jeaujeau“. Besonders gern denke ich mir schöne Namen für Frauen aus. Auf Anhieb fallen mir keine weiteren ein ... „Doresa Mandolf“ ... Es sind oft das A und das O vertreten.

Viktor Kalinke: Welche Orte, Städte, haben für dich eine Rolle gespielt und in welcher Form? Ich weiß, daß du aus Stralsund kommst und es dich dann, noch zu Ostzeiten, nach Leipzig verschlagen hat, ursprünglich, um an der sogenannten „Roten Burg“ Pädagogik zu studieren, woraus ja nichts geworden ist. Welche Orte waren - noch - für dich wichtig?

Thomas Kunst: Da ist natürlich erst einmal der Herkunftsort Stralsund, ganz klar. Ich bin mit achtzehn dort weggegangen und habe diese extreme Sehnsucht nach dem Meer mitgenommen. Ich bin wirklich sehr, sehr froh und sehr glücklich, daß ich, durch Zufall, wegen der Geburt meiner Tochter, hier in Leipzig gelandet bin. Leipzig hat leider nicht soviel davon profitieren können, denn es ist nicht als Ort in meinen Gedichten oder Romanen aufgetaucht, leider. Aber was mich unheimlich beeindruckt hat, waren 1997 drei Tage in New York, woraus ein New York-Roman resultierte. Das war für mich der erste Aufenthalt in einer großen Welt. Ich war ein bißchen verängstigt, aber gleichzeitig völlig fasziniert. Ich denke immer noch gern zurück. Einen Monat habe ich in Amsterdam gewohnt, eine wunderbare Stadt. Sie kommt auch in dem New York-Roman vor. Ich kenne ich da nichts und verbinde alles. Das ist zwar ein New York-Roman, aber es kommt auch Rom vor. Ich habe keine Angst, daß das nicht zusammen passen könnte, ich mache es einfach.

Viktor Kalinke: Sind die Orte in deinen Texten erkennbar?

Thomas Kunst: Ja, ja.

Viktor Kalinke: Oder hast du sie so abstrakt oder anonym als Metropole geschildert?

Thomas Kunst: Nein, eigentlich sind sie wirklich als solche erkennbar. Der dritte zentrale Ort ist natürlich Rom, weil ich da 2003 ein Jahr gelebt habe. Es war der längste Aufenthalt woanders. Das hat sich wirklich eingebrannt.

Viktor Kalinke: Mit Orten sind ja häufig auch Brüche in der Biographie verbunden oder Stationen, an denen man sich aufgehalten hat. Es hat häufig nichts mit dem Ort zu tun, sondern eher mit einem selber. Mich interessiert, inwiefern haben Brüche in deiner Biographie, für dich, für dein Schreiben eine Bedeutung? Wie nimmst du das wahr? Denn es ist ja etwas ganz Subjektives. Inwiefern ist das Schreiben von deiner eigenen Biographie gelöst oder verschlüsselt?

Thomas Kunst: Eigentlich gibt es in diesem Sinne keine Brüche, denn ich lebe seit zwanzig Jahren sehr kontinuierlich in einem Beruf, den ich sehr liebe. Wenn es einen Bruch gab, dann den, daß ich mich mit zwanzig gegen ein Studium entschieden habe und daß ich schon damals wußte, mit knapp zwanzig, daß ich nur noch Gedichte schreiben will. Das war ein bewußter Bruch, eine ganz bewußte Entscheidung. Aber ansonsten, seit ich wußte, daß diese Entscheidung für mich gefallen war, ging es in einer Linie durch. Es gab keine Brüche mehr, und die Auslandsaufenthalte waren auch nur kurz aus dieser Kontinuität herausgelöst. Ich war aber eigentlich immer mit beiden Beinen und dem Herzen hier in Leipzig.

Viktor Kalinke: Du schreibst aus einer luxuriösen Situation heraus, indem dir die Deutsche Bücherei so etwas gibt wie eine „kontinuierliche Geborgenheit“. Du kannst damit an Stoffen und an Linien, die du selber gesponnen hast, dranbleiben. Vereinbart sich für dich dieser Brotberuf, der zu einer Regelmäßigkeit verpflichtet und dadurch wenig äußere Abwechslung oder Anregung bietet, mit den inneren Abenteuern, die sich auf dem Papier abspielen?

Thomas Kunst: Ich arbeite im Lesesaal als Aufsicht, und das einzige, was ein bißchen dagegen steht, ist, daß ich zu wenig Zeit zum Schreiben habe. Ich habe eigentlich nur die Sonntage zum schreiben, weil ich oft in zwei Schichten und sonnabends arbeite, und das geht nicht zusammen. Ich würde nie im Lesesaal ein Gedicht schreiben. Das ist auch von der Konzentration her nicht möglich. Auch Notizen bringen da nichts. Das trenne ich ganz klar. Aber was ich dort erlebe, sind natürlich viele mannigfaltige Bewegungen. Ich habe jeden Tag mit Hunderten von Menschen zu tun, und das gefällt mir sehr gut, auch aus dem Grund, weil ich gern „ umhersehe“. Ich bin abends, wenn ich vom Dienst komme, in der Lage, mir noch einmal bestimmte Personen heranzuholen, einfach aus dem Gedächtnis, oder zu über legen, was war an dem Tag, wer kam, wer ging. Und das reißt nicht ab, spannend zu bleiben. Das ist wie ein verfeinerter Bahnhof, aber auf eine sehr, sehr schöne Art.

Viktor Kalinke: Und du hast vor, diese Stelle aufzugeben?

Thomas Kunst: Nein, überhaupt nicht, um Gottes Willen. Da würden wir jetzt zu dem Punkt kommen, der tatsächlich kriminell ist. Wenn ich diese Arbeit aufgeben würde, dann wäre ich völlig am Boden. Erst einmal ist es heute schwierig, überhaupt Bücher zu veröffentlichen, es wird immer schwieriger. Ich bin froh, einen Beruf zu haben, so daß ich nicht vom Bücher Schreiben leben muß. Und ich habe andererseits die Freiheit, keine marktorientierten Sachen an den Tag legen zu müssen. Ich kann schreiben, was ich will. Ich finde, das ist ein Luxus, den nicht jeder hat, und den genieße ich sehr. Das hat wiederum den Preis, daß man so gut wie gar nicht wahrgenommen wird. Gut, es gab ein paar Ausnahmen, ich war in Rom. Ich will auch nicht zu unbescheiden sein, aber mir reicht es nicht aus. Das muß ich ganz deutlich sagen.

Viktor Kalinke: Ich möchte noch einmal kurz bei der Deutschen Bücherei bleiben. Die Bücherei war ja ein Ort, an dem du hilfreiche Kontakte knüpfen konntest. Thomas Böhme war in den 1980er Jahren auch einmal dort beschäftigt. Ich weiß nicht, ob ihr euch da kennengelernt habt oder ob das auf anderem Wege geschehen ist. Wer war für dich Mentor, wer hat dich entdeckt? Als Schriftsteller lebt man ja, wie in jeder Kunstrichtung, davon, daß man als junger Anfänger entdeckt und auf die Bühne gehievt wird. Das ist in der Malerei oder in der Musik nicht anders. Nur ist diese Solidarität unter den solitär arbeitenden Dichtern seltener ausgeprägt als bei Musikern und Malern, habe ich den Eindruck, aber um Aufmerksamkeit zu erhalten und von Verlagen wahrgenommen zu werden, ist es häufig ein wichtiger erster Schritt. Wer hat da für dich eine Rolle gespielt?

Thomas Kunst: Mentoren gab es eher weniger. Was allerdings wirklich sehr wichtig war für mich, war die Begegnung mit Thomas Böhme Ende der 1980er Jahre. Und zwar war ich gerade im Babyjahr mit meiner Tochter und bin mit der Straßenbahn immer durch die Mockauer Straße gefahren, um sie in die Krippe in Thekla zu bringen. Böhmes erster Gedichtband „Mit der Sanduhr am Gürtel“ war ja legendär, das war ein Kultbuch, was ich damals noch in Stralsund gekauft habe. Es gibt darin diese Zeile: „wische in der Mockauer 45 die Treppe und höre 'Blond und Blond' von Bob Dylan“. Ich fuhr immer durch die Mockauer und sah immer die 45, und irgendwann dachte ich, jetzt steigst du mal kurz aus, schleichst in das Haus rein, steckst ein paar Gedichte durch den Schlitz und machst aber, daß du raus kommst. [lacht] Es wäre für mich unmöglich gewesen, dort zu klingeln und zu sagen „Hallo Thomas Böhme, ich schreibe auch Gedichte. Hier, nimm die.“ Ich bin erst einmal weg und war dann natürlich sehr aufgeregt. Drei Tage später kam ein Brief von ihm, ein sehr freundlicher Brief: „warum hast du denn nicht geklingelt. Komm’ und laß uns Rotwein zusammen trinken und Musik hören.“ Und dann bin ich zitternd da hingefahren und wir haben viel Rotwein getrunken und viel Musik gehört. Ich habe es natürlich genossen, weil ich mit meiner damaligen Frau und mit meiner Tochter in einem ganz kleinen Zimmer im Studentenwohnheim gewohnt habe. Da waren diese Mockauer Abende natürlich phänomenal für mich, auch weil ich bis zu dem Zeitpunkt nicht viel Ahnung von Musik hatte, was mit Ostdeutschland zusammen hängt. Thomas hat seine Platten aufgelegt, und ich habe das erste Mal Tom Waits gehört, die Allman Brothers, die Stones so richtig, und ich dachte, mein Gott. Nach so einem Abend bin ich immer mit zwanzig Platten unter dem Arm nach Hause gegangen. Ich hatte einen Plattenspieler im Studentenwohnheim. Natürlich haben wir uns auch über Gedichte unterhalten und gegenseitig etwas vorgelesen, uns bestätigt, uns bestärkt. Das war für mich absolut wesentlich. Der andere Schritt in die Szene ging für mich gar nicht. Leute sagten zu mir, du mußt unbedingt zur „Eigenart“ , du mußt dahingehen und fragen, ob du eine Lesung haben kannst. Ich weiß nicht, ich hatte damals so einen knallroten Mantel …

Viktor Kalinke: In den 1980ern noch?

Thomas Kunst: Ja, in den 1980er Jahren. ... einen knallroten Mantel, so einen Weihnachtsmannmantel. Ich bin dann dahin gegangen, und es fiel mir wirklich schwer, weil ich nicht so kontaktfreudig war, damals. Wenn ich niemanden kenne, dann fällt es mir doch schwer, mich zu entäußern. Jedenfalls bin ich zu dieser „Eigenart“ gefahren und machte die Tür auf. Hinten saßen ungefähr zehn Leute am Tisch. Ich bin auf die zugegangen, und bevor ich was sagen konnte, haben die gesagt,“ du bist hier zuviel“. Das war eine ganz klare Angelegenheit, da wußte ich, das Ding ist gelaufen.

Viktor Kalinke: Du hast also nicht noch die Verführung verspürt, an die Malerei anzuknüpfen?

Thomas Kunst: Natürlich nicht. Damals gab es noch die Staatssicherheit, und jeder, der dazukam, war unheimlich. Ja, da wußte ich, diese Szene kann mich am Arsch lecken. Und ich wollte dann auch mit denen überhaupt nichts anfangen, auch nicht mit diesen illegalen Zeitungen in Leipzig. Ich habe gemerkt, das ist nicht mein Weg.

Viktor Kalinke: Thomas Böhme war damals schon recht erfolgreich. Er hatte drei Bücher bei Aufbau veröffentlicht und zwei waren im Lektorat, die noch vor der Wende geplant waren und bis 1990 erschienen sind. Gab es da einen Effekt, konnte er dir helfen zu veröffentlichen?

Thomas Kunst: Nein, überhaupt nicht. Er war gerade in einer schwachen Position mit Aufbau. 1990 oder in diesem Dreh hatte er auch schon richtig zu tun, Verlage zu finden und selbst klar zu kommen. Aber ein durch ihn ermöglichter Kontakt war der mit einem Geschichtslektor bei Reclam, Dieter Thom, der dann auch den Thomverlag gegründet hat. Der hat es so unkompliziert gemacht. Er kam in die Bücherei, wir trafen uns, haben Kaffee getrunken und er hat gesagt, „Thomas, gib mir das mit“. Dann nahm er es mit, und mein erstes Buch erschien bei Reclam.

Viktor Kalinke: Es ist ein besonderes Buch, finde ich. Allein an der Aufmachung sieht man es schon. Es gibt kein anderes Reclambuch in dieser Gestaltung, das ich jemals gesehen habe, ganz weiß mit einem roten Schutzumschlag und Maschinenschrift. Auch der Satz ist ganz schlicht. Die üblichen DDR-Reclam-Bücher kann man nicht damit vergleichen, die hatten ein Einheitsformat.

Thomas Kunst: Dazu muß man wissen, es gab diese Reihe mit Hilbig, Jayn-Ann Igel und mir; also „Stimme, Stimme“ von Hilbig sieht so ähnlich aus.

Viktor Kalinke: Die Reihe ist aber nicht weitergeführt worden?

Thomas Kunst: Nein, nach uns dreien haben sie die Reihe eingestellt, obwohl sie sogar ziemlich gut weggegangen ist. Ich weiß nicht, was die damals für Zahlen hatten, aber es war letzten Endes doch zu wenig.

Viktor Kalinke: In deinem ersten Buch spürt man bereits deine Verliebtheit in den Klang, in den Klang von Namen. Es macht sich in den Versen sehr stark bemerkbar, daß du ein sensibles Gefühl für Satzmelodie und Rhythmus hast, aber vor allem für Melodie. Ich habe den Eindruck, daß dieser erste Band sprachlich gesehen weniger experimentell ist als die darauffolgenden Bände. Man sieht noch, daß das Gedichte sind. Fast auf jeder Seite, mal von der Erzählung am Ende abgesehen, haben die Texte die optische Gestalt von Gedichten, wie man sie landläufig kennt. Wie würdest du deine eigene Entwicklung beschreiben? Mit welchen poetischen Formen hast du begonnen? Welche Vorbilder hattest du in der Literatur, wenn überhaupt, und wie ging es dann weiter?

Thomas Kunst: Von der Entwicklung her war es so, daß ich, als ich anfing, Gedichte zu schreiben, es immer solche Gedichte sein mußten, die ich selber nicht in der Lage war, zu verstehen. Mich hat das hermetische Gedicht extrem gereizt. Es mußte chaotisch sein, es mußte ein bißchen irre sein, und maßgeblich für mich war die jahrelange Lektüre von Celan. Das hat mir fast das Genick gebrochen. Ich habe gemerkt, daß ich pro Tag mindestens fünf Gedichte geschrieben habe. Ich hatte den ganzen Schreibtisch mit Celan-Plagiaten voll, und irgendwann kam der Punkt, daß ich aufhören mußte, ihn so extrem zu lieben. Ich habe auch aufgehört, ihn zu lesen und versucht, mich von ihm zu emanzipieren. Gerade bei meinem ersten Buch, bei dem Reclam-Buch, spürt man das noch stark an einigen Komposita. Andererseits muß ich sagen, daß es für mich eine wunderbare Schule war, ihn bis zum Gehtnichtmehr zu kopieren. Ich habe da schon gemerkt, wie sich Wortgenauigkeit und Wortstruktur verhalten. Es gibt dieses Wort „Lichtdung“, von „Düngen“. „Lichtdung“ fand ich einfach gigantisch, das war für mich ein Zauber. Ich habe dann versucht, mich davon zu befreien und brauchte, ich glaube, fast drei oder vier Bücher dazu. Dann kam ein zweites Buch in der Connewitzer Verlagsbuchhandlung. Eigentlich liegt das chronologisch noch vor dem Reclam-Band, weil das ältere Texte sind, von 1986 bis 1990. Danach kam der Galrev-Band. Da schreibe ich auch das erste Mal Sonette. Das hält jetzt seit zehn Jahren an. Ich merke immer mehr, daß das Sonett eine Form ist, die ich mir noch genauer anschauen möchte.

Viktor Kalinke: Wenn du Sonett sagst, da gibt es diese Schulbuchform mit zwei Vierzeilern und zwei Dreizeilern.

Thomas Kunst: Es gibt das englische und das italienische.

Viktor Kalinke: Bei dir sieht es ja ein bißchen anders aus, insbesondere in der Interpunktion. Gerade im Medelotti-Band ist mir damals aufgefallen, daß du sehr experimentell mit Kommata umgehst ...

Thomas Kunst: Ja, absolut.

Viktor Kalinke: … und damit für Verwirrung sorgst. Also auf der einen Seite findet man bei dir das experimentelle Schreiben, das verschlüsselt ist und, auf Deutsch gesagt, kein Mensch versteht. Es hat etwas Irritierendes, Anregendes und manchmal auch Provokantes. Andererseits gibt es bei dir das eher traditionelle Schreiben, bei dem der Leser eine Botschaft erkennt und weiß, was er liest. Wie ist für dich das Verhältnis zwischen diesen beiden Schreibstilen?

Thomas Kunst: Das hat sich extrem verändert. Medelotti war ein Buch, da habe ich auch mitten ins Wort ein Komma gesetzt. Ich habe da auf drei Zeilen zwölf Kommas verteilt. Ich fand, das waren gute Unterbrechungen. Ich habe von einem Komma immer mehr gehalten als von einem Zeilensprung. Ich kann keinen Zeilensprung ausstehen, ich finde das fürchterlich. Wie gesagt, das waren Spielereien, auch mit der Kleinschreibung. Das waren alles erste Fingerübungen. Und vielleicht war Medelotti das erste Buch, bei dem ich dachte, ja ich bin irgendwie auf dem richtigen Weg, da verändert sich gerade etwas. Daß ich angekommen bin, wurde für mich mit dem vierten Buch „Der Schaum und die Zeichnung vom Pferd“ besonders deutlich. Das sind die ersten Gedichte, die ich wirklich stehen lasse. Da ist auch das Experiment fast völlig verschwunden. Das ist ja auch schon wieder sieben, acht Jahre her, und ich habe mich wieder verändert. Meine Sprache wird immer nüchterner, immer unexperimenteller, und ich möchte jetzt nur noch geradlinig schreiben, geradlinig sein, ohne viel Aufwand, ohne viel Dekor, also einfach die Sache auf den Punkt bringen.

Viktor Kalinke: Du willst dich also vom l’art pour l’art verabschieden, von der schäumenden Perlmetaphorik, wie Peter Geist das einmal beschrieben hat?

Thomas Kunst: Ja, ja, auf jeden Fall.

Viktor Kalinke: Damit kommst du mehr zur Prosa. Bei deinen Veröffentlichungen steht inzwischen manchmal Roman drunter, wobei man sicherlich streiten kann, ob es sich um Romane oder Langgedichte handelt.

Thomas Kunst: Das sind die Provokationen, die ich mir immer noch offen halte. Das mache ich mit Vorliebe. Ich möchte diese Kritikermeute einfach rauslocken, und ich möchte genau hören, daß sie sagen, „es ist alles andere als ein Roman“. Das ist mir einfach zu wenig, es geht um den Text, und wenn diese Genrediskussionen so überhand nehmen, dann habe ich sie eigentlich genau da, wo ich sie haben will. Ich will das auch ad absurdum führen, weil ich das idiotisch finde.

Viktor Kalinke: Gab es darauf Resonanz?

Thomas Kunst: Ja, immer.

Viktor Kalinke: Oder sind die Kritiker in die Falle getappt, die du gestellt hast?

Thomas Kunst: Ja, natürlich. Die haben einerseits die Namen erwähnt: „was für Namen, aber es ist niemals ein Roman“. Und dann begann der Verriß. Also „Martellis Untergewicht“ ist weiß Gott kein Roman … Ich halte das natürlich für einen Roman und auch für einen guten. Den neuen, den ich fertig habe, der ist auch vom Umfang her noch nicht einmal so, daß man ihn Roman nennen kann. Aber ich finde diese Diskussion fast beleidigend. Natürlich ist es ein Roman, ganz klar.

Viktor Kalinke: Noch eine Frage zu deinem ersten Buch „Besorg noch für das Segel die Chaussee“. Wie ist dein Verhältnis heute zu diesem Debüt? Kannst du noch dazu stehen oder …

Thomas Kunst: Ja, ja.

Viktor Kalinke: … oder ist es für dich verfallen?

Thomas Kunst: Nein, überhaupt nicht. Ich bin da, glaube ich, auch anders als viele Schriftsteller. Ich wollte nie um jeden Preis alles von mir veröffentlichen. Und im Nachhinein ist das sehr gut gewesen, glaube ich. Ich hätte natürlich auch versuchen können, diese Hunderte von Celan-Gedichten zu veröffentlichen. Vielleicht hätte es sogar jemand gedruckt, aber das wäre fatal geworden. Das waren ja die ersten Gehversuche und seitdem haben sich meine Gedichte extrem geändert. Bei Lesungen lese ich daraus nicht mehr, weil das nun auch schon fünfzehn, sechzehn Jahre her ist. Aber trotzdem, wenn ich mir die Sachen anschaue, habe ich immer noch ein ganz warmes Verhältnis zu denen. Ich merke an einigen Wendungen, daß ich das gewesen sein muß, der die geschrieben hat. Ausserdem ist in dem Buch noch ein Roman drin, ein ganz ganz kleiner. Und interessant war, daß bei Besprechungen dieses Gedichtbandes, obwohl es wirklich viele besprochen haben und dieses Debüt auch sehr gelobt wurde, niemand über diesen Text geschrieben hat. Der ist wirklich experimentell, der ist kaputt und irre.

Viktor Kalinke: Meinst du die Erzählung am Ende des Buches?

Thomas Kunst: Die Erzählung „Die Ernennung der Jugend zum Schlaf“. Ich finde den Text immer noch sehr modern. Zu der Zeit waren gerade die Montagsdemos. Obwohl ich weit im Vorfeld angefangen hatte, war ich auf einmal in die Situation versetzt, diesen Text nicht mehr ungeachtet davon zu Ende schreiben zu können. Das heißt, ich habe auf diese gesellschaftlichen Dinge reagiert. Der Text ist auf einmal so was von politisch geworden. Ich bin dem eigentlich fern, ich halte mich aus solchen Sachen grundlegend raus, weil ich denke, daß es da andere Leute gibt, die das besser machen können. Deshalb ist das Buch für mich immer noch wichtig, und ich kann dazu stehen.

Viktor Kalinke: Was glaubst du, welche Rolle kann der Dichter in der heutigen Gesellschaft spielen und sollte er spielen? Hat er überhaupt noch eine Rolle?

Thomas Kunst: Er hat die Rolle einer extremen Sprachverantwortung, weil Sprache ein Medium ist, das alle Bereiche in der Gesellschaft erfaßt – die Politik, die Erotik –, obwohl es keine vordergründige Aufgabe des Dichters ist. Ich denke, daß man mit einer verantwortungsvollen und sehr genauen Sprache dazu beitragen kann, die Sprache einer Gesellschaft zu kultivieren. So blöd das klingt. Viel mehr kann ich dazu auch nicht sagen.

Viktor Kalinke: Okay. Sollte der Dichter mehr Aufmerksamkeit finden? Damit meine ich in den Verlagen, in den Auflagenhöhen, in der Wahrnehmung der Öffentlichkeit, in den Medien. Sollte der Dichter, deiner Meinung nach, öfter auftauchen? Er macht es ja kaum, außer solche Autoren wie Günter Grass.

Thomas Kunst: Ich habe damals nicht verstanden, daß sich Christa Wolf 1989 auf eine Bühne gestellt hat. Ich halte davon wirklich überhaupt nichts. Ich halte einen Dichter, der ein anständiges Liebesgedicht irgendwo vorträgt für politischer, als wenn sich ein Dichter an Tagespolitik vergeht.

Viktor Kalinke: Kommen wir zu dem Thema der Anerkennung. Du hattest ja das Glück bzw. es ist nicht nur Glück, sondern eine Leistung, mehrere Preise zu erhalten: den Dresdner Lyrikpreis, den F.-C. Weiskopf-Preis, ein Stipendium der Villa Massimo ...

Thomas Kunst: Das klingt alles sehr viel, ist es aber nicht, muß ich wirklich sagen. Da beginnt eigentlich auch meine Verzweiflung.

Viktor Kalinke: Welche Erwartungen hast du an die Kritik? Da sitzen Juroren in den Gremien, die ihre Informationen durch Feuilletonisten und Kritiker aus Literaturzeitschriften erhalten, von den „Besetzern“ der Literaturhäuser sozusagen. Ja, die halten die Literaturhäuser besetzt. Welche Erwartungen hast du an die Kritik?

Thomas Kunst: Ich habe die Erwartung, daß sie einfach in der Lage sein sollte, wirklich hervorstechende Texte zu erkennen. Wenn ich mir heute die Literaturlandschaft in Deutschland anschaue, dann ist es wirklich zum wahnsinnig werden. Man darf auch nicht vergessen, es geht ja nicht nur um die Kritik, es geht auch um die Besetzung in den Verlagen, was sind das für Leute, die da z.B. Lektoren sind. Sind das Studenten, die gerade vom Literaturinstitut kommen? Wenn solch Leute schon in Jurys sind, dann würde das bedeuten, daß man als kontinuierlicher und sturer und treuer Dichter in dieser Landschaft eigentlich nichts zu erwarten hat. Das ist meine Erfahrung der letzten Jahre, obwohl ich diese drei Preise erhalten habe. Ich finde es immer noch jämmerlich, daß ich erst drei Preise bekommen habe, angesichts dessen, was ich geschrieben habe. Ich bin da wirklich auch sehr, sehr verzweifelt. Ich habe jetzt gerade wieder zehn Verlagsabsagen erhalten, und das wird immer schlimmer. Ich habe das Gefühl, je besser ich werde, um so weniger trifft dieser Markt auf mich zu. Mir fällt dabei ein Dichter ein, den ich überragend finde: Ulrich Zieger. Ich versuche immer ein, ihn ständig bei jeder sich bietenden Gelegenheit ins Gespräch zu bringen, einfach aus Solidarität, die es heute wirklich überhaupt nicht mehr gibt. Das muß man ganz klar festhalten. In den Jurys sitzen Mittelmaßdichter, und es ist doch völlig klar, daß die keinen vorschlagen oder für einen Preis nominieren, dem sie selbst nicht gewachsen sind.

Viktor Kalinke: Welche Folgen hatten die Preise für deine Bekanntheit, den Verkauf deiner Bücher und dein Auskommen?

Thomas Kunst: Ich glaube fast, ohne daß das jetzt zu irre klingt, die hatten kaum Auswirkung. Mit dem Verkauf kann man das sowieso nie messen. Der ist in dem Sinne immer untergewichtig geblieben. Es werden ja immer nur zwei-, dreihundert Bücher verkauft. Ich hatte die Hoffnung, die Illusion, daß, wenn ich aus der Villa Massimo zurückkomme, irgend etwas passiert. Es sah auch so aus. Ich bekam gleich danach den F.-C.-Weiskopf-Preis und dachte, mein Gott, jetzt bin ich vielleicht in dieser literarischen Arena angekommen. Dann hatte ich voriges Jahr zwei neue Veröffentlichungen, von denen ich mir wirklich extrem viel erhofft hatte, weil das meine bisher stärksten Bücher sind. Das eine ist ein Roman, was kein Roman ist, und das andere ist ein Gedichtband.

Viktor Kalinke: Beim Tisch7-Verlag, oder?

Thomas Kunst: Genau, beim Tisch7-Verlag der New York-Roman „Sonntage ohne Unterschrift“ und in der Frankfurter Verlagsanstalt der Gedichtband „Was wäre ich am Fenster ohne Wale“. Es ist tatsächlich so, daß ich mit beiden Verlagen unglücklich war und bin. Die haben es nicht vermocht, mir auch nur eine Lesung zu verschaffen. Das finde ich absurd. Im letzten Jahr gab es nun auch für Gedichtbände einige Ehrungen, und ich finde, dieser Gedichtband hätte natürlich einen Preis bekommen müssen, davon gehe ich ganz knallhart aus. Da kenne ich inzwischen nichts mehr. Ich denke, das ist einer der besten deutschen Gedichtbände mindestens des letzten Jahres, und ich sage das „mindestens“ ganz betont. Mich ärgert das wirklich maßlos. Ich finde, z.B. den Ernst-Meister-Preis an Jan Wagner zu vergeben, ist eine Zumutung. Das ist absurd. Aber da sitzen Leute in den Jurys, die das ganz genau wissen. Da waren z.B. Lutz Seiler und Thorsten Arend drin, die mich beide sehr gut und auch die Qualität meiner Texte kennen. Ich finde so etwas unglaublich.

Viktor Kalinke: Das eine ist die Szene, die sich für Lyrik interessiert und ziemlich klein ist. Ich denke manchmal, aus Sicht des Verlegers wäre es schon gut, wenn jeder, der Lyrik schreibt und publiziert, wenigstens einmal im Jahr einen Lyrikband kaufen würde. Damit wäre die Branche gerettet. Vielleicht tausend Leute – gut, manche sind krank und kaufen vielleicht doch kein Buch – sagen wir mal, vierhundert kaufen ein Buch. Das wäre bei Lyrik nicht schlecht. Aber es passiert leider nicht. Ich wollte schon eine Passage in die Verlagsverträge aufnehmen: Wer einen Lyrikband herausbringt, muß auch den Lyrikband eines anderen Autoren kaufen.

Thomas Kunst: Ja, nicht schlecht.

Viktor Kalinke: Ich habe es aber sein lassen. Ich dachte, auf die Idee müßten die Autoren selber kommen. Ist leider aber nicht passiert. Was meinst du: Wieso hat Lyrik in Deutschland kein Publikum? Es gibt außer den Dichtern selbst wahrscheinlich keinen, der noch Lyrik liest.

Thomas Kunst: Ich glaube das gar nicht. Mein Gefühl ist, daß es ein großes Publikum gibt. Das klingt jetzt ein bißchen paradox. Allerdings ist dieses Publikum nicht gleichzeitig das Käuferpublikum und vielleicht liegt es genau daran. Ich denke, daß Gedichte schon immer davon gelebt und gezehrt haben, daß sie auf kürzestem Raum, auf kleinstem Raum Welt darstellen können. Ich habe die Erfahrung gemacht, wenn ich dann mal eine Lesung hatte, daß ich gute Reaktionen darauf bekommen habe. Ich habe gemerkt, daß ich wildfremde Menschen ins Herz treffen kann. Eine bessere Erfahrung kann man mit eigenen Texten eigentlich nicht machen. Ja, es ist nicht gerade ein Lyrikboom, aber auch solche Erfolgsgeschichten von kookbooks und so zeigen, daß es immer noch ein starkes Interesse an Lyrik gibt. Und ich denke, daß wird auch so bleiben.

Viktor Kalinke: Du hast auch viel mit Musikern zusammengearbeitet. Was hast du aus der Musik für dein Schreiben und für deine Dichtung gewonnen?

Thomas Kunst: Eigentlich alles. Ich habe der Musik fast alles zu verdanken. Mein Vater hat mich als kleiner Junge gezwungen, Geige und Bratsche zu lernen, und ich habe dann noch Bassgitarre gelernt. Aber weil ich immer ein unheimlich fauler Sack war, habe ich es auf diesem Gebiet nicht zur großen Meisterschaft gebracht. Irgendwann fing ich dann an, zu improvisieren, ich spielte nicht mehr nach Noten und hatte auch ein paar kleinere Bands in Stralsund. Irgendwann wollte ich aber etwas machen, was ich besser kann. Da habe ich in der elften Klasse einmal ein Gedicht geschrieben. Das war in den Ferien, da waren alle Freunde weg. Ich hielt dieses Gedicht für ziemlich grandios, obwohl es das nicht war. Aber es hat dazu geführt, daß ich diesen Instrumentenwechsel vorgenommen habe. Ich habe also die Geige und die Bratsche liegen lassen und fing an, Gedichte zu schreiben. Jetzt, zwanzig Jahre später, ist allerdings die Musik mit solcher Wucht zurückgekommen, daß ich nun auch Gitarre spiele. Das ist immer mein Lieblingsinstrument gewesen. Ich habe es nie gelernt, aber ich habe es immer gezupft und gespielt und gemacht. Und jetzt endlich, um so etwas wie eine Gruppendynamik zu simulieren, habe ich eine Band gegründet. Die bin ich allein zusammen mit einem Achtspurgerät. Ich mache damit Bandaufnahmen. [lacht] Mein Gedanke ist der – weil das mit den Büchern so beschissen läuft und so fürchterlich ist –, daß die Musik meine Seele wieder ins Reine bringt, mich froh macht. Musik ist für mich das absolut stärkste Glied in der Welt, so euphorisch das klingen mag. Die künftigen Bücher, sollte ich jemals noch einen Verleger finden, will ich alle mit Soundtracks ausstatten. Das habe ich mir vorgenommen. Ich möchte diese seelische Komprimiertheit durch die Musik ausdrücken. Ich möchte, daß beides nebeneinander steht und sich ergänzt.

Viktor Kalinke: Du hast auch mit realen Musikern zusammen gespielt. Bei dem Hörbuch, was wir aufgenommen haben, waren drei Musiker beteiligt. Bist du musikalisch noch aktiv?

Thomas Kunst: Mit dem Pianisten. Ich merke, man kann auch nicht mit jedem Musiker zusammen arbeiten. Es gibt Unterschiede, und gerade wenn man improvisiert, muß es eine Verläßlichkeit oder eine ähnliche Erwartung geben, was Klänge angeht. Da will ich auf jeden Fall weitermachen, denn, wenn ich allein Musik mache, komme ich ganz schnell an meine Grenzen. Es ist auch spannender, mit anderen Leuten zu spielen.

Viktor Kalinke: Eine letzte Frage. Du hast ja verschiedene Verlage, bist einer, der von einem Verlag zum nächsten wechselt: Galrev oder Kowalke, der schon pleite ist. Das wollte ich damals, als wir dein Hörbuch aufgenommen haben, nicht als Omen verstehen. Wie kommst du zu deinen Verlagen? Das ist ja auch nicht einfach.

Thomas Kunst: Das ist ein Kunststück, ja.

Viktor Kalinke: Dafür bewundern dich auch Autoren, die noch kein Buch haben: „Mensch, der hat fast jedes Buch bei einem anderen Verlag herausgebracht.“

Thomas Kunst: Ja, das klingt heldenhaft, ist aber eigentlich eine Spur der Verzweiflung, eigentlich ist es fürchterlich. Ich habe immer den einzigen, wirklich wahren und für mich besten Verleger gesucht. Klaus Kowalke gibt es leider nicht mehr. Das war einer. Der hat sofort auf meinen Gedichtband „Der Schaum und die Zeichnung vom Pferd“ reagiert. Er kam mich zwei Tage später in Leipzig besuchen und sagte: „Thomas ich mache von dir alles. Hier, unterschreib’ das.“ Ich habe dann für den Gedichtband unterschrieben. „Hast du noch was Neues?“ fragte er. Darauf sagte ich: „Ich habe noch einen Roman“. Den hat er auf der Zugfahrt gelesen. Zum ersten Mal hatte ich das Gefühl, daß ich angekommen bin, daß ich einen Verleger habe. Ich habe immer noch Sehnsucht danach. Jetzt mit Joachim Unseld habe ich gedacht: ach, endlich mal ein etwas größerer Verlag, ja, aber ich bin schon wieder rausgeschmissen worden. Es gibt diese mutigen, natürlich völlig selbst zerstörerisch agierenden Kleinverleger nicht mehr. Also, die gibt es nur noch ganz selten. Die ohne diese Absicherung handeln, wie es Kowalke gemacht hat. Das war natürlich ein Wahnsinn. Der hatte keinen Autor, der sich irgendwie getragen hat, und dann stand er auf einmal vor dem Nichts.

Viktor Kalinke: Das nahm ein schnelles Ende mit Kowalke.

Thomas Kunst: Ja, mein dritter Roman war schon angekündigt, aber da ging alles ziemlich fix den Bach hinunter. Ich habe immer noch die Illusion, weil ich noch einige Bücher schreiben möchte und werde, daß ich irgendwann einmal jemanden finde, der sagt: „So, paß mal auf, ich steh zu dir, auch wenn es hart wird. Für dich mache ich das, weil ich merke, daß sich das lohnt.“ Das wünsche ich mir.

Viktor Kalinke: Ich glaube, daß die sogenannten Bestseller nicht nur Bestseller sind, weil viel Werbung für sie gemacht wird, sondern auch, weil sie eine kommunikative Offenheit haben. Sie sind manchmal sehr banal. John Irving zum Beispiel wird mit jedem Buch banaler. Aber es spricht immer mehr Leute an und um so mehr Werbung gibt es dann dazu. Das wird dann zum Selbstläufer.

Thomas Kunst: Solange es nicht so esoterisch wird wie bei diesem Coelho, den ich wirklich grottenschlecht finde, ist das okay. Es gibt wunderbare Bestsellerautoren, Connie Palmen ist z.B. eine grandiose Autorin. Das geht schon zusammen. Vor ein paar Jahren hatte ich auch noch Verachtung dafür. Ich dachte, Bestsellerautoren, Bestsellerbücher, das muß der letzte Dreck sein. Nein, um Gottes Willen.

Viktor Kalinke: Eine Überraschung war für mich Terézia Mora bei Bertelsmann.

Thomas Kunst: Die kenne ich nicht.

Viktor Kalinke: Sie hat den Leipziger Buchpreis bekommen, nicht in diesem Jahr, sondern im Jahr davor. Sie ist eine Ungarin und hat Peter Esterhazy übersetzt, also diese dicken Romane. Sie hat ein Buch geschrieben, das in Berlin spielt, in der Migrantenszene, wo ein Osteuropäer aus irgendeinem verschlissenen Studentenwohnheim im Sprachlabor acht Sprachen lernt.

Thomas Kunst: Ja, also es lohnt sich?

Viktor Kalinke: Ja, es lohnt sich. Sprachlich gesehen, ist der Roman beinahe experimentell und dennoch eingängig und verständlich. Trotzdem, denke ich, wenn solch ein Roman in einem Verlag wie Luchterhand herauskommt, der jetzt zu Bertelsmann gehört und sehr hart rechnet, muß es sich auch rentieren.

Thomas Kunst: Die rechnen sehr hart. Ich habe gerade eine Absage von Luchterhand bekommen für meinen neuen Roman. Der Lektor schrieb, er habe sich zum Teil ganz köstlich amüsiert, dabei ist das Buch dazu eigentlich nicht geeignet. Das Lachen müßte ihm im Halse stecken bleiben, wenn er seine Selbstspiegelung als Lektor darin sieht. Ich habe es mir inzwischen abgeschminkt, daß sich ein großer Verlag für mich ins Zeug legen wird, das ist mir klar geworden. Ich brauche einen mutigen Kleinverleger.

Viktor Kalinke: Inwiefern, glaubst du, liegt das an den Texten oder beispielsweise an solchen Dingen wie ostdeutsche Herkunft?

Thomas Kunst: Das, glaube ich, spielt überhaupt keine Rolle. Meine Texte sind inzwischen sehr radikal. Ich weiß nicht, ob sie in der Lage sind, jemanden zu verängstigen. Ich halte sie seit ein, zwei, drei Jahren für extrem eigenständig. Ich glaube, ich habe einen Ton, den man wiedererkennt. Und ich habe das Gefühl, daß man vor soviel Eigenständigkeit tatsächlich ein bißchen Angst hat. Ich merke das auch bei Texten von Ulrich Zieger. Er ist für mich einer der größten deutschen Dichter, aber niemand interessiert sich für ihn, und niemand veröffentlicht seine grandiosen Gedichte. Wirklich, es ist ein Jammer.

Viktor Kalinke: Der Merlin-Verlag?

Thomas Kunst: Ja, der hat jetzt seine Übersetzung von Jean Genets „Ein verliebter Gefangener“ herausgebracht. Das ist natürlich auch ein wunderbarer Verlag, aber die können sich das einfach nicht leisten. So etwas wäre wunderbar.

Viktor Kalinke: Gibt es umgekehrt Autoren, die du versuchst, nach vorne zu holen und zu unterstützen, außer Ulrich Zieger?

Thomas Kunst: Nein, es gibt niemanden. Wenn ich mich für jemanden einsetze, dann ist das Ulrich Zieger. Ich habe diesen Weiskopf-Preis erhalten und jeder Preisträger ist in der nächsten Jury vertreten, wenn er wieder vergeben wird. Da gibt es für mich natürlich nur einen Vorschlag, vielleicht einen zweiten noch. In Deutschland sind nicht viele Lyriker, die ich bewundere. Ulrich Zieger steht für mich an erster Stelle und Gerhard Falkner ist auch ein großartiger Dichter.

Viktor Kalinke: Dankeschön für das Gespräch.