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Interview

Was machen eigentlich die Frauen?

Gespräch mit Katrin Heinau vom 1. 7. 2006

Viktor Kalinke: Zuerst interessiert mich, an welchen Orten du schreibst. Bist du eine Autorin, die seßhaft an ihrem Tisch sitzt oder bist du viel unterwegs? Sammelst du deine Eindrücke bereits unterwegs in schriftlicher Form oder erst einmal als Spur im Gedächtnis? Also wo ist für dich der Ort des Schreibens? Wo hältst du dich da auf?

Katrin Heinau: Ich bin relativ viel unterwegs. Es gibt Erzählungen, die habe ich mir regelrecht erlaufen. Vor allem die Erzählungen, die in Berlin entstanden sind. Da habe ich einzelne Viertel, die ich dazu belaufen habe, in denen ich täglich war und eingetaucht bin, in den Rhythmus eingearbeitet. Dort bin ich in die Geschäfte gegangen und habe mir die Leute angeschaut. Aber ich bin nicht die Autorin, die sich ins Café setzt und anfängt zu schreiben, sondern ich gehe mit den Eindrücken nach Hause. Ich mache mir höchstens unterwegs im Bus mal eine kleine Notiz, aber der eigentliche Text entsteht in der Regel am Schreibtisch. Ich bin keine Kaffeehausliteratin.

Viktor Kalinke: Wie es Anna Seghers war ...

Katrin Heinau: Ich sitze nicht so gerne bei Kaffee in der Ecke und schreibe, sondern ich tauche gerne in Atmosphären ein. Also Orte sind sehr wichtig. Es ist aber nicht immer so, daß der Ort nachher in dem, was ich schreibe, so ohne weiteres erkennbar ist. Statt dessen geht es mir manchmal um den bestimmten Rhythmus eines Ortes, der für einen Text wichtig wird, oder es geht mir um etwas anderes atmosphärisches, um bestimmte Menschen, die da verkehren. Oder ich kann mir eine Figur nur vorstellen, mit dem was sie erlebt, wenn sie es dort erlebt, wo ich dann hingehe, um diese Fiktion da zu nähren.

Viktor Kalinke: Ich höre da eine Sensibilität für Formen heraus, wenn du sagst, Rhythmen seien eine formale Eigenschaft eines Ortes, die vielen gar nicht auffällt, weil sie implizit darin steckt und man sich auf sie konzentrieren muß, um sie überhaupt zu bemerken. Vielleicht kommen wir darauf später noch mal zurück. Ich möchte noch einmal zur Frage des Ortes kommen. Du hast Berlin erwähnt, wo du jetzt lebst. Welche Orte waren für dich noch wichtig?

Katrin Heinau: Dresden, wo ich die letzten drei Jahre gelebt habe. Dresden war für mich sehr wichtig, weil ich Dresden als einen sehr starken Gegensatz zu Berlin empfunden habe. Wieder der Rhythmus, denn der Rhythmus in Dresden ist natürlich ganz anders. Er ist langsamer, natürlich, aber nicht nur das. Die Gegenden in und um Dresden herum haben einen ganz anderen Charme durch den Fluß, der sich normalerweise relativ träge bewegt. Es gibt diese enormen Elbwiesen, es gibt diese wunderschöne Umgebung und es gibt überhaupt Hügel. Wenn man die Autobahn von Berlin nach Dresden fährt, kommt plötzlich dieses Schild „Sachsen“ und schlagartig ist die Landschaft viel schöner. Es ist ganz erstaunlich. Umgekehrt, wenn man von Dresden nach Berlin fährt, steht da „Brandenburg – neue Perspektiven entdecken“ und man darf rasen. Das ist das Erste, was passiert, die Geschwindigkeitsbegrenzung ist aufgehoben. Das spricht schon irgendwie für sich, finde ich. Und ich habe in Dresden die Orte noch einmal neu erlebt. Nicht so sehr unter dem Gesichtspunkt, daß so viele verschiedene Menschen wie in Berlin zusammentreffen und ich ein Gefühl von Wirklichkeit, also was alles gleichzeitig auf der Welt passiert, habe, sondern vielmehr war es da mehr ein Abschreiten persönlicherer Bereiche. Ich verbinde mit Dresden auch ganz neue Lebensverhältnisse: Meine Tochter ist dort zur Welt gekommen und ich habe eine Künstlerszene kennen gelernt, die mich fasziniert hat. Das waren Leute, unter denen ich fast ausschließlich verkehrt bin. Ich bin dort keinem Bürojob nachgegangen, was natürlich das Verhältnis zu dieser Stadt entscheidend geprägt hat. Das heißt, ich konnte mich sehr darauf einlassen, was mir gerade auch zu diesem Zeitpunkt viel Freude gemacht hat. So habe ich den Ort als ziemlich leuchtend erlebt und auch als erholsam nach Berlin.

Viktor Kalinke: Worin besteht für dich die Beziehung dieses Ortes zu deinem Texten? Sind das anonyme Orte? Sind das Orte, die man nicht wieder erkennen kann, wie die Messingstadt bei Meckel, also Orte, die man mit jeder Metropole oder jedem Dorf in Verbindung bringen könnte? Oder sind es ganz authentische Bilder von Orten, die jeder kennt?

Katrin Heinau: Ich weiß nicht, ob sie jeder wiedererkennt, aber diejenigen, die die Orte kennen, könnten sie wiedererkennen. Insofern sind sie authentisch. Ich steigere den Ort nicht in allgemeine Bilder von Stadt. So etwas interessiert mich eigentlich weniger. So abstrakt kann ich an Orte nicht heran gehen. Dann geben sie mir dieses atmosphärische, sinnliche nicht mehr, aus dem ich abstrahierende Geschichten baue oder beziehe. Aber die Orte sind erkennbar. Manchmal werden sie sogar direkt beschrieben. In „Evakuierung“ gibt es einen Spaziergang von der Hochschule der Künste in die Neustadt bis dahin, wo ich gewohnt habe. Das kann man genau so abschreiten. Das ist exakt so wie ich es beschrieben habe. Natürlich ist es meine Wahrnehmung, weil es logischerweise immer nur kleine Ausschnitte sind. Ich sehe das Haus, ein anderer würde das andere Haus sehen.

Viktor Kalinke: Die Zeit in Dresden war für dich insofern besonders, weil für dich selbst eine neue, eine andere Lebensphase angebrochen ist, andere Lebensverhältnisse, als du sie vorher hier in Berlin hattest. Kannst du ein bißchen von dieser Entwicklung erzählen? Wie hat es für dich mit dem Schreiben angefangen?
Katrin Heinau: Angefangen zu schreiben habe ich erst nach meinem Studium. Ich hab bis 1991 studiert, da habe ich meinen Abschluß gemacht. Allgemeine und vergleichende Literaturwissenschaft und Germanistik habe ich studiert. Gegen Ende des Studiums wußte ich, daß ich nicht auf die Seite der Literaturwissenschaftler gehöre, sondern daß ich die Seite wechseln muß. Und so hab ich mich dann durch meine Magisterarbeit gequält und danach angefangen zu schreiben. Gleichzeitig habe ich angefangen im Theater zu arbeiten. Das war sehr entscheidend für mich. Ich habe nämlich nur kurze Zeit als Dramaturgin gearbeitet, in Berlin an kleineren Off-Bühnen, von denen es damals eine Vielzahl gab und die auch Geld bekamen, was heute nicht mehr der Fall ist. Viele von diesen kleinen Bühnen oder Gruppen, bei denen ich damals war und denen ich sehr viel verdanke, existieren nicht mehr. Ich habe dann relativ schnell beschlossen, lernen zu wollen, wie Schauspieler arbeiten, denn ich saß mehr im Büro und darauf hatte ich gar keine Lust. Ich hab eine Schauspielausbildung gemacht, und das stellt eine entscheidende Phase dar, die bis heute für mein Schreiben prägend ist. Eigentlich ist meine Schauspielausbildung meine künstlerische Grundausbildung. Natürlich baue ich auf den Kenntnissen meines Studiums auf, aber ich bin kein „poeta doctus“. So schreibe ich jedenfalls nicht. Das ist nicht meine Art an so etwas heranzugehen. Was ich während meines Studiums gelernt habe, das vergesse ich tunlichst beim Schreiben ...

Viktor Kalinke: Sofern das gelingt.

Katrin Heinau: Sofern das gelingt, und ich glaube, es gelingt ganz gut. Ich habe relativ lange gebraucht, zu vergessen, aber inzwischen gelingt mir das ganz gut. Viel wichtiger sind die Erfahrungen, aber auch Techniken, die ich aus der Schauspielausbildung und aus dem Spielen gewonnen habe. Ein Beispiel wäre: Was man Rollenprosa nennt, liegt mir natürlich relativ nah, denn als Schauspielerin hat man immer eine Rolle zu erarbeiten. Das hat mich als Schauspielerin aber gestört und genervt. Ich habe meine Theaterstücke zu dieser Zeit ohne Personage geschrieben. Meine Prosa hingegen ist häufig eine Rollenprosa. Es ist interessant, wie sich das gegenseitig beeinflußt. Das heißt also, ich schreibe eine Prosa, der man vorwerfen kann, daß sie etwas von Theater an sich hat, in jedem Fall etwas Performatives, eine Geste. Es gibt häufig eine Figur, die nur so und nicht anders sprechen kann. Dieser längere Prosatext „Der Papst ist ein Schwede“, der ist genauso geschrieben. In meinen Theatertexten hingegen habe ich erst in letzter Zeit wieder die Freiheit gewonnen, wirklich Rollen zu schreiben, weil mich das vorher nicht interessiert hat. Zu dem was Dresden ausgemacht hat, kann ich noch was sagen. Dort habe ich zunächst einmal noch meine letzten zehn Jahren in Kreuzberg ver- und bearbeiten müssen.

Viktor Kalinke: Mit dem Abstand?

Katrin Heinau: Ja, mit dem Abstand. Das war sehr gut und sehr wichtig. Ich habe da ein Stück geschrieben, das in „Evakuierung“ als schwieriges Stück bezeichnet wird. „Evakuierung“ hat ja auch autobiografische Passagen, in denen das Ich dem Ich der Autorin sehr nahe ist. Dieses schwierige Stück mit dem Titel „Liturgia – Ich habe alles bezahlt“ habe ich in Dresden geschrieben. Es geht um Alkohol, um diese Parallelwelten, die in den entsprechenden sozialen Bereichen existieren. Es geht um fünf Personen, die auf der Straße zu leben scheinen. Man weiß es nicht genau. Der ein oder andere hat vielleicht noch eine Wohnung, der nächste vielleicht nicht mehr. Sie sind alle irgendwie von Alkohol geprägt. Ich hatte diese Erfahrung zum Teil selbst gemacht – also nicht ich selber, aber in meiner allernächsten Umgebung –, was zu dem persönlichen Bruch geführt hat, weshalb ich auch die Stadt verlassen, eine neue Beziehung begonnen und eine neue Familie gegründet habe. Natürlich spielt auch die Umgebung in Kreuzberg eine sehr wichtige Rolle. Dieses Stück, das ich in Dresden geschrieben habe, ist eigentlich immer am Oranienplatz in Berlin-Kreuzberg und diesen Rondellen, an denen man sich dort zum Saufen trifft, angesiedelt. Das ist so ein Platz, an dem das spielen könnte, nicht muß. Es ist in dem Fall auch nicht wiederzuerkennen. Das Stück abstrahiert den Ort relativ stark. „Ein Platz im Freien“ heißt es ganz einfach.

Viktor Kalinke: Aber in diesen vier Geschichten, in „Vier Männer“, ist Kreuzberg als Ort der Handlung vertreten.

Katrin Heinau: Ja, ist auch Kreuzberg vertreten. In der letzten Erzählung kommt auch Berlin-Mitte vor.

Viktor Kalinke: Diese Geschichten hast du in Dresden geschrieben?

Katrin Heinau: Diese Erzählungen sind in Dresden geschrieben. Das waren die letzten, die ich geschrieben habe, bevor Amanda auf die Welt kam. Ganz interessant also, hochschwanger habe ich diese Erzählung noch fertig gestellt. Danach habe ich mit „Evakuierung“ begonnen. Vor diesen Erzählungen habe ich übrigens „Wunderbar kann ich singen! Ein Clownstück über Arbeit und Markt“ geschrieben. Die erste Hälfte der Schwangerschaft habe ich also mit einem relativ heiteren Text verbracht. [lacht] Je schwerer ich wurde, desto erinnerungsträchtiger wurden diese Texte dann. Die „Vier Männer“ sind durch die Figuren Erinnerungen und Rückblicke auf Berlin. Das Berlin der 1980er spielt darin eine Rolle. Vielleicht noch ein Wort zu Dresden und dieser Zäsur. Ich habe in Dresden eine gewisse Leichtigkeit und Heiterkeit gewonnen, die ich mir hoffentlich weiterhin bewahren kann. Dieser heitere Grundton von „Evakuierung“ ist ohne Dresden nicht denkbar. Das hätte ich in Berlin bestimmt nicht so gefunden.

Viktor Kalinke: In „Evakuierung“ hast du der Ich-Erzählerin deutliche autobiografische Züge verliehen. Aber nicht nur du selbst tauchst als Protagonistin auf, sondern eine ganze Kulisse, eine Szenerie von real lebenden Personen. Ich finde, das verleiht deinem Erzählen eine besondere Spannung und Aktualität, die gerade in dieser Zeit für Aufmerksamkeit sorgen kann, denn es können sich andere in deinem Spiegel wiedererkennen. Bei „Vier Männer“ scheint es mir, daß es auch reale Vorbilder gibt, aber die sind mir als Leser gar nicht wichtig. Ich spüre vielmehr ein Spielen mit einer Abstraktion von der jeweiligen Figur. Es geht mehr um einen Typus oder um einen Charakter, den es zu formen oder literarisch zu greifen gilt.

Katrin Heinau: Ja, ganz richtig.

Viktor Kalinke: Ist es Zufall, daß du mal so einen stark autobiografischen Einschlag wählst und mal eher ein Schweben über der möglicherweise selbsterlebten Realität?

Katrin Heinau: Das ist dieser Leichtigkeit, von der ich eben sprach, geschuldet. Ich war selber ganz überrascht und sehr froh, als plötzlich dieses Ich im Text „Evakuierung“ auftauchte. Ich habe den, wie es da drin auch heißt, von links nach rechts geschrieben. Also, genau so wie er erscheinen wird, ist er auch geschrieben. Ich habe mich da vom Anfang bis zum Schluß da vorangearbeitet. Der Text nimmt ja sehr stark diese Geste des Generierens auf, was mit der Geburtsszene zu tun hat, die am Anfang sehr wichtig ist und als sich dann plötzlich, dieses Ich zu erkennen geben konnte, war ich selber sehr angetan. Im Rahmen dieser Personage, die ich sehr schematisch A bis Z genannt habe, da kann plötzlich dieses Ich Platz finden. Das ist ein Platz unter einem sehr großen Dach, geradezu ein kosmisches Dach. Ich war sehr froh, daß ein Ich darin auftauchen konnte, das nicht dieses Gewicht hat, das so ein Ich normalerweise in einem Text hat. Es ordnet sich in gewisser Weise unter. Das hat mir sehr gut gefallen, und ich habe Mut geschöpft, dieses Ich auch autobiografisch auszustatten und dort herumlaufen zu lassen, wo ich, die Autorin herumgelaufen bin. Ich habe mich, wie gesagt, in der Szene junger Künstler in Dresden bewegt und bei ihnen habe ich etwas gefunden, daß ich so auch noch nicht erlebt hatte: eine gewisse Leichtigkeit verbunden mit den Fragen: Was wird aus uns? Werden wir berühmt? Was können wir für die Kunst leisten? Was will der Betrieb von uns? Wie werden wir in ein paar Jahren sein? Werden wir uns noch kennen? Was wird mit uns geschehen? Das sind starke Umbrüche, bei Leuten, die zum Teil zehn oder fünfzehn Jahre jünger sind als ich. Es hat mich sehr fasziniert, mit denen soviel tun zu haben. Ich wollte sie erwähnen. Ich erwähne sie wie Kunstfiguren, die sie natürlich werden in dem Moment, in dem sie aufhören zu studieren und eintreten in das Arbeiten als Künstler. Nur diese Personen tauchen mit ihren Klarnamen auf, alle übrigen tragen diese Kürzel und sind dadurch natürlich stärker stilisiert. Die Künstler können das aushalten, finde ich, mit ihrem Namen erwähnt zu werden. Ich habe das natürlich in den Kreisen vorgetragen. Jeder, der darin vorkommt, weiß Bescheid. Außer den Schriftstellern, deren Erwähnung zu marginal ist und auch ganz lakonisch bleibt, weil ich sie mehr vom Rand her wahrgenommen habe, eben als eine, die zugezogen ist. Und außer Jonathan Meese. Den kenne ich nicht persönlich, aber der wird das ertragen, daß er eine längere Rede hält, die er nicht gehalten hat.

Viktor Kalinke: Es gibt eine Authentizität im Text, die glauben macht, es sei so gewesen, wie du es beschreibst.
Katrin Heinau: Genau.

Viktor Kalinke: Aber es ist auch ein Spiel mit der Fiktion, mit dem Vortäuschen von Wirklichkeiten. Dazu kam mir noch eine andere Frage beim Zuhören ...

[Jan Brokof verläßt den Raum und geht ins Atelier. Es ist ein gemeinsames Atelier.]

Viktor Kalinke: Es ist ungewöhnlich, daß eine Autorin im Atelier arbeitet.

Katrin Heinau: Ich finde es toll. Es ist in dem Fall auch nicht wirklich ein Atelier, das sind Büroräume, aber sie sind auch ein bißchen fabrikartig.

Viktor Kalinke: Kommen wir noch einmal auf die Frage nach dem Ort des Schreibens zurück.

Katrin Heinau: Mir gefällt es wirklich gut, in Ateliers zu arbeiten. Ich habe in Dresden zum Teil in Ateliers gearbeitet, weil ich das immer sehr schön fand.

Viktor Kalinke: Das ist eine anregende Atmosphäre, mit dem Material, das noch in unverarbeiteter Form herumsteht.

Katrin Heinau: Ja, das ist toll. Die ganzen Bücher im Nacken zu haben, daß ist nicht immer so angenehm. Ich habe gern die paar Bücher, die einen Text befördern und die ich dann auch zu meiner Tradition zähle, um mich, neben oder vor mir, aber ich muß das nicht immer alles hinter mir haben. Daß das hier so aufgebaut ist, heißt nicht, daß ich immer so arbeite. Ganz im Gegenteil, die drei Bücher, die im Atelier herumliegen, zwischen Pinseln, Dreckwasser und Holzspänen, sind mir eigentlich sehr viel lieber.

Viktor Kalinke: Noch einmal zurück zur Frage: fiktionale Wirklichkeit oder Realismus, was reizt dich mehr? Reizt dich der Stoff oder ist er für dich nur ein literarisches Mittel, mit der Wirklichkeit fiktional umzugehen?

Katrin Heinau: Die Grenze ist natürlich interessant, wobei ich der Meinung bin, daß man sich nicht vor dem Realismus fürchten muß. Man muß sich also nicht vor der in der Literatur aufgenommenen Realität fürchten, der eigenen Realität als Autorin, als Autor, denn der Grad an Fiktionalität, der sich einstellt, ist ja für denjenigen, der das liest viel höher als für den, der das einarbeitet. In dem Moment, in dem ich das lese, fiktionalisiere ich ja auch weiter, das heißt, ich stelle die Fiktion als Leserin mit her. Und je authentischer Texte sind, desto besser. Die Frage ist immer, woher kommt die Authentizität? Manchmal hat sie sehr viel mit Orten zu tun, manchmal hat sie mehr damit zu tun, was man an bestimmten Orten nicht sehen und beschreiben kann: Atmosphäre, Aura von Toten. Das geht auch als Authentizität in den Sättigungsgrad, in den Gehalt von Texten ein.

Viktor Kalinke: Du hast „Evakuierung“ eine „zukünftige Legende“ genannt. Das zielt ja auf den Effekt hin, den Literatur haben kann, während die Erinnerung an das gelebte Leben verblaßt und keiner mehr so richtig weiß, wie es eigentlich war. In zehn oder zwanzig Jahren wird diese Szene, die jetzt in Dresden gerade hip ist kein Mensch mehr kennen. Nur so ein paar „Dinosaurier“, die dort geblieben sein werden, die anderen hat es in alle Winde zerstreut. Dann wird man auf die Legende zurückgreifen, die dann auch eine Wirklichkeit ist. Inwiefern ist das von dir beabsichtigt?

Katrin Heinau: Das ist natürlich beabsichtigt.

Viktor Kalinke: Geschichtsschreiberin zu sein?

Katrin Heinau: Genau. In dem Text ist es tatsächlich auch ein Spiel mit der Geschichtsschreibung, ich habe darin versucht den für mich selbst größtmöglichen Bogen zu schlagen. Deshalb darf der auch Roman heißen. Es ist mein erster Roman und ich wende da verschiedene Erzählmittel an, die von der Anekdote über die Chronik bis hin zur Legende reichen. Auch journalistische Elemente finden da Eingang, aber auch diese stark abstrahierenden Momente im ersten Teil, in dieser Personage A bis Z. Die Absicht ist die Realität, wie ich sie wahrgenommen habe, zu einer literarischen Wirklichkeit zu machen. Diese soll die Legende derer, die darin mit ihren Klarnamen vorkommen, befördern. Es ist auch immer eine Funktion von Literatur etwas zu behaupten. Kunst behauptet in starkem Maße, so daß vielleicht eine Parallele zwischen mir, der Schriftstellerin, und den Künstlern, die ja mit jedem Blatt starke Setzungen produzieren, festzustellen ist. Schriftsteller geben sich manchmal so moralisch, so als hätten sie damit nichts zu tun. Aber jeder Satz ist eine starke Behauptung und schafft Wirklichkeit, und das wollte ich deutlich zum Ausdruck bringen und damit spielen. Ich wende das auch auf mich an. Ich behaupte, daß für mich damals in Dresden meine eigene Bekanntheit eine ausgemachte Sache war. Wir werden sehen ob das der Fall sein wird.

Viktor Kalinke: Wenn ich das richtig verstehe, ist das Buch „Evakuierung“, auch eine Dienstleistung an der jungen Kunst, die noch nicht den Aufmerksamkeitsgrad erreicht hat, den sie vielleicht möchte.

Katrin Heinau: Ja, das mag ein Teil davon sein. Es würde mich freuen, wenn ich dazu beitragen könnte. Wahrscheinlich wird es eher umgekehrt sein. Sie werden schneller bekannt als ich und dann wird man vielleicht aus dem Grund mal zu meinem Buch greifen. Das wird wahrscheinlich passieren.

Viktor Kalinke: Ich finde das ungewöhnlich, denn daraus ergibt sich wirklich eine Gegenseitigkeit. Bevor der Narzißmus des Künstlers in den Vordergrund trat – mit der Fotografie würde ich das datieren – hatte Kunst eine dokumentarische Funktion. Herrscher, Fürsten, die Frauen der Fürsten, ihre Kinder und Kindeskinder wollten porträtiert werden. Sie waren wichtige Auftraggeber der bildenden Kunst. Die Freiheit davon und die Freiheit, das eigene Ich in den Mittelpunkt zu stellen, ist erst ein historisch junges Phänomen. Und wie lange es überleben wird, weiß heute keiner. Was jetzt, in den letzten fünfzig Jahren seit dem 2. Weltkrieg, als westliche Kunst gefeiert wird, als moderne Kunst, hat sich historisch ja noch nicht bewährt. Was beim Schütteln des Siebes der Geschichte hängen bleibt, das ist die Frage.

Katrin Heinau: Es ist natürlich auch die Geste von Pop, denn ohne Pop wäre dieser Text, jedenfalls dieser Teil daraus, nicht denkbar gewesen. Aber ich muß betonen, daß das nicht meine ursprüngliche Absicht war, als ich den Text angefangen habe, ganz und gar nicht. Es gab kein Konzept, in dem es heißt, irgendwann wirst du in diesem Text die Künstlerszene beschreiben. Ganz und gar nicht. Ich habe ursprünglich mit der Frage angefangen: „Was machen eigentlich die Frauen?“ Ich hatte gerade meine Tochter geboren und kam aus dem Krankenhaus. Das erste was ich dann gemacht habe, abgesehen davon, daß die letzte Erzählung von „Vier Männer“ noch fertiggestellt werden mußte, war, daß ich mich mit diesem neuen Thema beschäftigt habe: mit dem Kind und der Geburt – das waren erst einmal die Themen. Ich habe mich gefragt, was machen eigentlich die Frauen in Bezug auf die existenziellen, uralten Themen, aber auch welche subversiven Handlungen sind vielleicht in ganz kleinen Gesten verborgen. Zum Beispiel diese Person W.: Die hört zu. Die hat einen Hörstuhl, keinen Lehrstuhl. Also, was für Veränderungen wären möglich, wenn man bestimmte Fähigkeiten und Handlungen von Frauen, denn darauf lag zunächst einmal mein Augenmerk, verallgemeinert oder weiter spinnt. Da war ich ganz schnell auch euphorisiert von einer Zukunft, die ich mir als eine sehr feminine oder feminisierte vorstellen mag. Es ist keine provokante These mehr, daß die Frauen heute die Möglichkeit haben, ihre komplexen Fähigkeiten auch umzusetzen. Der Mann muß sich beeilen, daß er dagegen nicht abfällt. [lacht] Ich wollte auch für und mit meiner Tochter einen Text beginnen, der das zum Anlaß nimmt, eine Art zukünftige Legende schreiben, in der die Frauen eine ganz, ganz starke Funktion und starke Fähigkeiten haben. Diese Gedankendisziplin, von der da immer die Rede ist, diese Gedankentechniken, die sind etwas ganz anderes als die Techniken im Science Fiction. Man strengt sich an und denkt intensiv an etwas und dann tritt es ein. Es steckt auch ein Stück Magie da drin.

Viktor Kalinke: Das sind jetzt schon wieder ganz neue Fälle, die du hier anreißt, aber ich hänge noch einer Frage von vorhin nach. Ich möchte gern noch einmal einen Blick auf deine Entwicklung im Schreiben werfen. Stimmt der Eindruck, daß du, als du im Theater begonnen hast, sehr weit entfernt von deinem eigenen Ich geschrieben hast, indem du andere Rollen, Figuren in den Stücken gestaltet hast, in denen du selbst nicht oder nur wenig enthalten bist? Und „Evakuierung“ ist für dein Schreiben insofern etwas Neues, daß ein Ich darin auftritt und auf einmal auch sehr stark, fast sogartig, den ganzen Text beherrscht?

Katrin Heinau: Nicht ganz. Die Prosa steht mir sicherlich näher als die Theaterstücke. In meinem ersten Stück „Schwerdgeburth“ ist sicherlich auch ein Makel, daß ich meine eigenen Erfahrungen etwas direkter hätte einbringen können, anstatt so artifiziell heranzugehen. Ich habe da an einer Kunstsprache gearbeitet. Später habe ich festgestellt, daß diese Arbeit am eigenen Stil nicht das ist, was mich weiter treibt. Denn ich bin keine Autorin, die bestrebt ist, einen unverwechselbaren Stil zu haben. Mir ist es viel wichtiger, durch mich hindurch möglichst viele Stimmen zum Ertönen zu bringen. Das heißt, daß ich mich lieber an die Fersen eines anderen hefte.

Viktor Kalinke: Hast du dabei Vorbilder?

Katrin Heinau: Literarische Vorbilder? Nein. Ich habe beim Schreiben in aller Regel Vorbilder, ja. Und die sind mir häufig sehr, sehr nah. Ich versuche so nah wie möglich an das Sprechen von jemand anderem heranzukommen. Es gibt eine unveröffentlichte Erzählung, wo das Ich sehr stark die Umgebung reflektiert, da wird “Katrin“ selbst diese Andere. Ich-Katrin ist gehetzt, sucht Arbeit – der Titel ist „Existenzgründungstag“ – und wird von einem fremden Typen aufgehalten, der viel schlechter dran ist als sie. Der spricht sie glatt mit ihrem Namen an! Und macht ihr nur Scherereien. Die Erzählung ist im Ton des gehetzten, geradezu verfolgten Ich geschrieben. In „Der Papst ist ein Schwede“ ist Katrin dagegen stumm. Wird auch namentlich angesprochen, aber Katrin ist nur die Zuhörerin, während ein anderes Ich spricht, dem Katrin fasziniert erliegt. [lacht] Das heißt also, daß das Ich auf ganz viele verschiedene Weisen auftaucht. Und daß das autobiografische Ich an verschiedenen Orten ist. In der Regel ist es im Ohr, ganz selten ist es wirklich so aktiv wie in „Evakuierung“. Da ist es so aktiv wie noch niemals zuvor. Und so autobiografisch wie noch niemals zuvor. Ich kann noch nicht sagen, wo mich das hinführen wird, wie sich dieses Ich noch kleiden wird.

Viktor Kalinke: Du hast eben davon gesprochen, daß eine Vision einer femininer geprägten Welt eine Rolle gespielt hat. In „Evakuierung“ auf jeden Fall, das ist ganz deutlich sichtbar. Das hängt vermutlich auch mit der Geburt deiner Tochter zusammen. Ich möchte gern wissen, inwiefern beim Schreiben deiner Texte die sinnliche oder körperliche Erfahrung, die ja für Männer und Frauen unterschiedlich ist, eine Rolle spielt. Vorhin hast du gesagt, in den neunziger Jahren war für dich die Suche nach einer eigenen Kunstsprache wichtig. Also ein abstraktes Ziel, eine ästhetische Herausforderung, ein inneres Bild, das eine Orientierung geben kann für das Schreiben. Wie siehst du das Verhältnis von konkreter körperlicher, auch geschlechtsspezifischer Erfahrung und Abstraktion, ästhetischer Abstraktion?

Katrin Heinau: Ja, also ich bin natürlich von einer feministischen Theorie geprägt, die davon ausgeht, daß es Unterschiede zwischen dem männlichen Blick und dem weiblichen Ohr gibt. Ich teile diese Ansicht und ich kann mich davon vielleicht auch nicht mehr lösen. Ich glaube, daß ich tatsächlich viel übers Ohr aufnehme, übers Ohr auch verarbeite und Musik und Rhythmus für mich eine größere Rolle spielen als das Bild. Das ist sicherlich auch der Grund, warum ich mich von der Arbeit am Stil verabschiedet habe. Anders gesagt, ich glaube, daß die Arbeit an der möglichst elaborierten Metapher nicht die meine ist. Mein Stil, insofern es ihn gibt, wird immer mehr mit dem Sprechen und dem Rhythmus von Sprechen zu tun haben. Ich arbeite aber nicht gezielt darauf hin, daß das alles Musik wird, sondern das mag so musikalisch oder unmusikalisch sein, wie das unterschiedliche Sprechen sich eben darstellt. Ich denke nicht sehr stark in Bildern. Das heißt, meine Imagination ist eine, die mehr vom Ohr herkommt oder auch, man kann sagen, von der Haut. Das geschlechtspezifische Erleben hat für mich mit der Haut zu tun. Man sagt ja immer, und ich bekomme das auch immer wieder von Männern und Frauen, mit denen ich über diese Dinge rede, bestätigt, daß sich das sexuelle Erleben der Männer und Frauen im wesentlichen durch Auge und Haut unterscheidet. Die Frauen nehmen mehr über die Haut wahr, verspüren Lust sehr stark über die Haut. Der Mann geht sehr stark vom Auge aus. Ich denke, das prägt, bis in die letzte Faser hinein, diese Verschiedenheit, die aus dieser Quelle stammt. Ich glaube auch, daß das schließlich zu unterschiedlichen Texten führt, wobei natürlich die Grenzen zwischen Männern und Frauen fließend sind. Das möchte ich ganz deutlich betonen. Für mich ist nicht jeder Mann automatisch dieser Mann, wie ich ihn beschrieben habe. In Bezug auf die Wahrnehmung, und nicht jede Frau wird das teilen, was ich sage. Das sind natürlich Metaphern, wenn wir das sagen. Das ist Gender, nicht wahr?

Viktor Kalinke: Das ist eine nicht mehr allzu frische Diskussion, daß das körperliche Geschlecht nichts mit der Geschlechtsidentität zu tun haben muß, die von Judith Butler ausgegangen ist. Es wäre ein Zeichen des Fortschritts, wenn unsere Identitäten nicht mehr davon abhingen, ob wir uns als Frau oder als Mann fühlen.

Katrin Heinau: Ja, und genau das gehört zu den Punkten, die ich in einer zukünftigen Legende gerne lesen würde, daß sich diese Grenzen zwischen Männern und Frauen auflösen. Wenn ich von Männern und Frauen rede, dann sind das natürlich diese Genderbegriffe, mit denen wir uns tagtäglich umgeben, mit denen wir versuchen, uns zu charakterisieren oder uns gegenseitig einander verständlich zu machen. Aber natürlich ist an deren Auflösung zu arbeiten. Ich hoffe, daß alle begreifen, was sie dabei gewinnen können. Es ist sehr schwierig, darüber zu sprechen. Man merkt ja schon, daß man darüber gar nicht anders sprechen kann als wieder in Stereotypen, was mir in dem Moment in dem ich das sage regelrecht einen Stich versetzt. Für mich ist es nur über Literatur möglich etwas anderes zu vermitteln, davon, was Mann und was Frau ist oder sein könnte.

Viktor Kalinke: Es ist in deinen Texten nicht so kämpferisch formuliert, daß du sofort den Haß der Gegenseite auf dich ziehen würdest. Passiert das trotzdem?

Katrin Heinau: Das passiert.

Viktor Kalinke: Aber für mich ist das verwunderlich. Ich kann es nicht nachvollziehen. Ich empfinde die Texte gar nicht als so feminin, sie haben eher eine androgyne Sichtweise. Möglicherweise sehe ich es so, weil ich mich diesem Geschlechterkampf nicht so gern zugehörig fühle.

Katrin Heinau: Feminin klingt ja auch so ein bißchen sanft. Das ist vielleicht auch nicht das, was mich charakterisiert.

Viktor Kalinke: Es spielt in Texten eher auf ästhetische oder formale Weise eine Rolle. Es fließen Wahrnehmungen ein, die männlich oder weiblich sind, da geht es gar nicht vordergründig um die Thematik des Textes. Nicht nur Sichtweise, Hörweise natürlich auch, Wahrnehmungsweise, nenn ich es mal. Inwiefern, glaubst du, lassen sich Männer [beide lachen] von diesen Texten zum Nachdenken über ihre Geschlechtsidentität anregen, also nicht über ihr sexuelles Erleben, sondern darüber, was die Spezifik ihres Handelns als Mann ausmacht?

Katrin Heinau: Ja, ja. Ich möchte sie auf alle Fälle erreichen. Ich hoffe sie können lachen, das wäre das wichtigste Ziel. Sie sollen lachen über alle Figuren, in dem Moment, in dem diese Thematik Mann Frau eine Rolle spielt, denn es ist auch immer etwas lächerliches dabei, wie wir uns einander gegenüber stehen und wie wir uns darstellen, wie wir praktisch ständig Geschlechtsdarsteller sind. Ich versuche das ein bißchen zu durchleuchten. An den Stellen, wo das gelingt, kann man vielleicht lachen. Damit wäre schon sehr viel gewonnen. Ich möchte eigentlich nicht so vorgehen, daß ich den Männern etwas um die Ohren haue, was ich glaube das sie sind, das muß man nicht in Büchern machen. Das kann man besser in bösen Briefen und wahrscheinlich auch in Zeitungsartikeln. Das kann man in anderen Textsorten sicherlich besser machen als im Roman.
Viktor Kalinke: Im Exposé von „Vier Männer“ hast du geschrieben, daß du die männlichen Figuren von ihrer eigenen Geschichte befreien möchtest. Wie ist das gemeint? Was bedeutet für dich „Freiheit von der eigenen Geschichte“?

Katrin Heinau: Das klingt natürlich sehr hochgegriffen. Das ist ein sehr hohes Ziel. Was ich vor hatte, war die Geschichten dieser Figuren nicht so zu erzählen, daß dabei ihr Scheitern unterm Strich herauskommt. Mit dieser Frage stellt man die Frage nach Geschichte im allgemeinen, und das hat mich sehr umgetrieben für diese vier Erzählungen. In „Evakuierung“ gibt es ganz andere Lösungen dafür. In „Der Papst ist ein Schwede“ gibt es diese eine Sicht, diesen Erzählstrom, da stellt sich die Frage gar nicht so sehr. Aber hier, wo Leben reflektiert wird, von einer dritten Person auf sich selber geschaut wird und dann in diese erste Figur zum Teil auch hineinkippt. Ich war sehr froh über die Stellen, wo es mir das gelungen ist, plötzlich „ich“ sagen zu können, also vom „er“ zum „ich“ gehen zu können und dann natürlich wieder zum „er“ zurück, wo ich mich nahe genug gefühlt habe. Was mir sehr wichtig war, und was ich mit diesem Wort „retten“ vor der eigenen Lebensgeschichte meinte, war mich nicht der Geschichte anheim zu geben, in der sie immer nur Opfer und kleine Gestalten in einem großen Ablauf sind, der über sie wegschreitet. Sie sind keine Opfer der Geschichte und hoffentlich auch nicht Opfer meines Erzählens. Das mögen die Leser vielleicht anders sehen und ich habe zum Teil ein anderes Echo dazu bekommen: Das seien Experimentierfelder und so ähnlich. Es kommt offensichtlich ganz anders an, als es meine Intention war. Ich wollte mich tatsächlich darin üben, Figuren so zu beschreiben, daß ich sie nicht dem Ausschnitt von Geschichte, der da erzählt wird, zum Fraß vorwerfe. Ich hoffe, es ist irgendwie verständlich, was ich damit meine. Das heißt auch, diesen Ablauf von Geschichte zugunsten der Figur einmal anzuhalten und möglichst viel Einspruch unterzubringen und natürlich auch die Beschränkung auf die Perspektive der Personen selbst inklusive der Selbsttäuschung, die davon hervorgebracht wird. Das macht dann die Ironie dieser Texte hier und da aus.

Viktor Kalinke: Du hast das indirekt schon angeschnitten. Welche Rolle, denkst du, nimmt der Autor in der Gesellschaft ein oder wird er wieder einnehmen? Spielt er überhaupt noch eine Rolle?

Katrin Heinau: Ich glaube er oder sie nehmen eine Rolle durch die Intimität ein, die zwischen ihm und dem Leser beim Lesen entsteht. Dieses Alleinsein mit dem Buch, diese Zwiesprache, die da entsteht, ist an Nähe ja kaum zu überbieten. Ich spüre diese Verantwortung, die darin liegt, meinem Leser so nah zu sein, sehr deutlich. Ich glaube, daß die gesellschaftliche Funktion ohne diese Intimität nicht denkbar ist. Mich interessieren die Statements von Autoren in Zeitungen oder in Interviews nicht, das ist es nicht, was sie ausmacht, sondern die Prägung die sie vielleicht mehr oder weniger sanft dem Leser in dieser ganz nahen Situation mitgeben, besonders was die Frage des Umgangs mit den Figuren und ihrer Geschichte angeht. Die Übung in Behutsamkeit im Umgang mit den Figuren halte ich für sehr, sehr wichtig, auch in Büchern, die scheinbar nicht diesen Eindruck erwecken, in denen z.B. etwas ruppige Zäsuren gesetzt wurden. Auch „Evakuierung“ macht vielleicht nicht den Eindruck von Behutsamkeit, trotzdem gibt es ein Erzählkonzept, das all die Figuren, die auftauchen unter ein Dach stellt, unter dem sie behütet sind von einer Vorstellung von Geschichte, die zu erzählen ist. Also ich möchte an unserem Geschichtsbild mitarbeiten. Wir haben darüber gesprochen, daß ich mein Erzählen, welches sich an „Evakuierung“ anschließt, als kugelförmig beschreiben würde. Ich möchte kugelförmig erzählen. Damit meine ich, um die Erde herum. Globalität nicht so sehr als zu kritisierendes Faktum nehmen, sondern als Ansporn zu einer Form, in der eine Vermittlung von Immanenz und Transzendenz stattfindet. Also eine Transzendenz nicht aufgekündigt wird, aber Immanenz weder zynisch gefeiert noch für hochgradig bedauerlich gehalten wird. Ich möchte ein Erzählen finden, das von heute ist, trotzdem aber ein Geschichtsbewußtsein transportiert, fernab von Linearität, was für mich nur über das Sprechen funktioniert. Ich glaube, daß ich über eine theoretische Reflektion nicht so weit komme, als wenn ich zuhöre, höre wie Menschen reden.

Viktor Kalinke: Danke für das Gespräch.